Ich studiere also wieder und befinde mich demnach in einer Art argentinischem Alltag. Studieren, guter Punkt! Um das mal alles ein bisschen zu beschreiben.. Montags hab ich von 17 bis 21h ein Seminar namens „Las Crisis del Capitalismo y sus Consecuencias en Argentina“. Dienstags gibt’s zur gleichen Uhrzeit eine Materia (Kombination von theoretischen (wie Vorlesung) und praktischen (Texte analysieren u.ä.) Stunden) namens „Geografía Social de América Latina“. Mittwoch dann wieder zur gleichen Uhrzeit Geografía Política. Und zwischendurch lesen, lesen, lesen... In jedem Fach kriegen wir so viele Texte zu lesen, das es gerade für uns Ausländer echt nicht schaffbar ist. Möchte ja auch nicht meine komplette Zeit hier mit Lesen verbringen!!;) Die Geographie hier ist völlig anders als in Deutschland, sehr gewöhnungsbedürftig und hat wie ich bzw. wir finden nicht wirklich viel mit Geographie zu tun, eher kann man es als Symbiose von sehr viel Politik, Ökonomie, Soziologie und Geschichte (manchmal auch sowas wie Literaturwissenschaft) beschreiben. Das ganze wird einem dann mit einer seeeehr sehr linken Brille auf der Nase dargebracht, tatsächlich scheinen die meisten Professoren in dieser Fakultät (die Studenten sowieso) Marxisten oder zumindest Sozialisten zu sein. Etwas was mir am Anfang unheimlich gefiel, die ersten Stunden begann ich auch noch innerlich euphorisch dem Gesagten zuzustimmen, aber spätestens nach zwei Wochen konnte ich die Begriffe Krisis, Neoliberalismus, USA, Kapitalismus, Imperialismus und so weiter nicht mehr hören.. Das Problem ist, dass es eben alles sehr subjektiv rübergebracht wird und selbst wenn das (fast) alles stimmen mag, ists total unreflektiert und irgendwie banal. Es bringt doch nichts, alles Schiefgelaufene in der Vergangenheit den Amis und vorherigen Kolonial- oder Imperialisten in die Schuhe zu schieben, sich dann zurückzulehnen und in den Wogen des eigenen Mitgefühls und dieser Ungerechtigkeit zu baden. Junge man muss doch den Ursachen dieser Entwicklung, der eigenen „Unfähigkeit“ (oder Unmöglichkeit), diese Strukturen zu überwinden usw. auf den Grund gehen! Also irgendwie eher eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte als objektive geographische Analysen dieser ganzen Strukturen und Prozesse, die gerade hier extrem interessant sind! Irgendwie passt aber genau das zu der argentinischen Mentalität, dieses ständige Aufarbeiten und Suchen, und es ist auch ganz interessant, diese andere Form hier mal mitzubekommen. Gerade auch, weil wir in Kiel durch das Seminar Wirtschafts- und Sozialgeographie Lateinamerikas, was letztes Semester lief ne ganz gute Basis haben. Das ganze jetzt hier (zum Teil) vor Ort sehen und dann die Art und Weise, wie das hier behandelt wird, mitkriegen zu können, ist schon ziemlich gut. Und auch wenn mich die ganzen Texte leicht annerven, kriegt man wirklich viele Informationen dadurch. Bin nach dem Semester glaub ich in der lateinamerikanischen Geschichte gewiefter als in der europäischen:D
Die Fakultät „Filosofia y Letras“ ist wie ja schon angeklungen seeehr politisch. Überall hängen Banner, Faggen, Massen an Flyern, die verteilt werden, und alles links bis ultralinks. Ganz gut dazu ein Kommentar unseres Politikprofs (mal eine Ausnahme und extrem witzig dieser Mensch), der sich als mittelinks bezeichnet, womit du ja aber in dieser Fakultät schon als rechts abgestempelt wirst. Aber mir gefällts, das ist echtes Engagement und die Studenten scheinen ehrlich dahinter zu stehen und wollen wirklich was bewegen. Neben Unipolitik gibt’s viele Aktionen wie in lezter Zeit vor allem gegen den Regierungssturz in Honduras. Zum Beispiel gab es eine große Demo die über die große Avenida de Julio bis zum Parlament ging. Die hab ich mir angeguckt und es war echt beeindruckend wieviele da mobilisiert werden konnten (abgesehen von den Angeheuerten;) ), überall Fahnen, Banner, Gesinge und Getrommel. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass so etwas in Deutschland möglich sein könnte..
Aha! Letztens haben Flo und ich mal die Geobibliothek besucht. Ein Loch mit dem Charme einer sehr alten Bibliothek, aus dem dann ein kleiner älterer Mann mit Zopf herauskam. Und wat sahen wir quasi als erstes rechts im Regal? Drei Regalbretter voll von „Kieler Geographische Schriften“-Bücher, inklusive Dissertation von unserm Prof! Wie geil! Das erwartet man in diesem Moment dann wirklich nicht, alles bekannte Namen, deutsche Titel inkl. Themen über Schleswig-Holstein:) Der Bibmann hat uns dann erzählt, dass der Kontakt leider abgebrochen ist, irgendwann haben beide Seiten aufgehört, Bücher zu schicken. Aber es ist ja nie zu spät;)
Unten gibt’s mal ein paar Fotos aus Buenos Aires, leider hab ich noch keine aus der Fakultät, kommt aber noch. Man lernt die Stadt ja immer besser kennen, entdeckt immer wieder neue Ecken und ahnt langsam auch das Ausmaß. Die Stadt Buenos Aires (Capital Federal) ist ja noch mehr oder weniger übersichtlich, aber Gran Buenos Aires ist wirklich krass. Mit dem Bus oder Zug braucht man ca. eineinhalb bis zwei Stunden um aus diesem Agglomerationsraum raus zu kommen und man sieht genau das was man irgendwann in Geo fast nicht mehr hören konnte, Fragmentisierung auf kleinstem Raum. Da wechseln sich schönste Viertel mit villenähnlichen Häusern und weiter außerhalb Gated Communities wie aus dem Bilderbuch mit den elendsten Villas (so werden hier die informellen Armenviertel genannt, also die argentinische Variante von den brasilianischen Favelas) ab. Dann mal wieder Gewerbe, mal Tennis- oder Golfplätze... Es ist so interessant, da einfach mal durchzufahren. Generell wird ja versucht, die Villas vor allem in der Stadt bestmöglichst zu verstecken. Es gibt z.B. keine Busse, die dort hin- oder vorbeifahren. Die einzigste innerstädtische Villa die ich bislang gesehen habe, ist eine direkt neben dem großen Busbahnhof Retiro. Ansonsten wird der wohlhabende Bürger sorgsam vor dem belastenden Anblick solchen Elends bewahrt. Aber alles kann dann doch nicht ausgeblendet werden, auf den Straßen ist die Armut nicht zu übersehen. Es gibt so unglaublich viele bettelnde Menschen, oder solche, die versuchen, durch den Verkauf von irgendwelchen Heftchen oder Maria-Karten ein bisschen was zu verdienen. Da muss man erstmal lernen, damit umzugehen, würde man jedem etwas geben, wäre man wahrscheinlich ziemlich schnell pleite. Also vieles abblocken, bis man wie die meisten wohlhabenderen hier droht. völlig abstumpften und diesen Tunnelblick zu bekommen. Das geht wirklich schneller, als ich dachte, gab schon Momente, wo ich mich vor mir selbst geekelt habe. Man ist selbst ganz schnell dabei, was dazu beizutragen, dass dieses System hier aufrecht erhalten wird. Muss man sich alles immer mal wieder bewusst machen. Und es wird einem auch immer wieder vor Augen gehalten, wie abgefuckt dieses System ist, wenn z.B. in einer Ecke plötzlich ein glitzerndes Einkaufszentrum mit Erlebniswelt und allen möglichen Luxusgeschäften drinnen auftaucht und davor die Leute auf der Straße sitzen, betteln oder selbst das nicht mehr können. Ein perfektes Beispiel für diese krassen Gegensätze ist z.B. auch das neue Hafenviertel Puerto Madero. Vor gar nicht so langer Zeit noch ein klassischer Ranzhafen gewesen, wurde er komplett aufgewertet und nu schießt ein Hochhaus nach dem anderen aus dem Boden, ein paar Büros, aber vor allem Wohnungen. Das ganze natürlich hermetisch bewacht von unzähligen Polizisten, die woanders viel dringender gebraucht würden. Und alles blitzblank. Also eigentlich kein bisschen Buenos Aires, oder vielleicht auch gerade deswegen. Da sagen aber bestimmt auch die Fotos einiges aus. Direkt daneben ist ein großes Reservat, dort gibt’s den besten Lomito (Sandwich mit steak quasi, Salat und viele Saucen) und Sonntags immer großen Flohmarkt. Grad für einen Sonntag ists da wirklich schön, es ist ruhig und vor allem gibt es ja mal Natur und gute Luft! Und das Hafenviertel ist eben auch ziemlich beeindruckend, so fertig das auch alles ist.. Ich geh an die Sache ja aber natürlich auch nicht als Tourist, sondern als Geograph heran:D
Fotos gibt’s natürlich auch nur von den schönen Ecken der Stadt, man will ja auch nicht die dreckigen Seiten zeigen, da man ja ein größtmögliches „Oooooh! Wahnsinn! Beeindruckend! - Uuii!“ in der Heimat erreichen will. Und schon funktioniert man genauso wie die Stadt selbst:D Nee nee, ich fühl mich irgendwie schlecht wenn ich eine Villa oder in der Ecke liegende Menschen fotografiere. Aber demnächst gibt es vielleicht mal Müll-Fotos oder ähnliches:)
So, hab bestimmt was vergessen, weiß gar nicht mehr was ich schreiben wollte. Jedenfalls muss ich sagen, dass mich diese Stadt immer mehr beeindruckt, dieser Riesenorganismus mit diesen heftigen Gegensätzen und ständigen Superlativen, die ich zumindest so bislang noch nicht kannte, der aber irgendwie funktioniert. Nicht zuletzt durch den Beitrag der viiieelen informell Tätigen (z.B. der Müllmafia, ohne die diese Stadt irgendwann wie Neapel enden würde). Totale Dynamik, super:)
Hab mich mittlerweile denk ich richtig gut hier eingelebt. Zwischenzeitlich wars mal ein bisschen schwieriger, dazu ein bisschen Uni-Frustration, generell ein bisschen Stagnation, das Neue war nicht mehr neu und es kam nicht so schnell anderes Neues, wie mans sich wünschte. Aber so eine Katerstimmung ist nach dem vorherigen Rausch auch irgendwie logisch und sie verfliegt dementsprechend ja auch wieder.
Nagut, das dann erstmal. Nu ein paar Fotos.
Und spaeter gibt es dann auch nen Bericht aus Chile, wo wir gerade Thomas (Mitbewohner und Kumpel aus Kiel) besuchen, der Sonntag Geburtstag hat!
Puerto Madero
Das Reservat

Die Avenida de Julio (wie gesagt wird die breiteste innerstaedtische Strasse weltweit) und ich
irgendwo in Palermo
im Microcentro
der Kongress
die Börse von außen
das Parlament am Plaza de Mayo
Auf einem Flohmarkt in San Telmo
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